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PFLEGE DES SCHRIFTSTELLERISCHEN LEBENSWERKES VON MILÁN FÜST
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Meine Mutter, ihr Ehemann und Caravaggio

 

Am 1. Januar 1956 schrieb Milán Füst in einem Brief an seinen Freund:

„… Vor Weihnachten ist ein Fräulein bei uns erschienen, das sich als Erzsébet Lakatos-Lőwy vorstellte, sich auswies, uns Pfände anbot und sich damit hundertzwanzig Forint von uns lieh. Wir nahmen die Pfandsachen nicht an, da sie sich auf Dich berief, sie sei die Tochter Deiner Schwester, Du bist also ihr Onkel. Wir standen ihr gerne zur Verfügung, und sie versprach, ihre Schulden mit den im dortigen russischen Laden gekauften Zitronen zu begleichen, die Du vor Weihnachten nach Pest bringen wirst.“ Eine Woche später: „Mein lieber Freund, ich danke Dir sehr für Deinen Brief. Da hat man mich eben hereingelegt. Eine Anzeige erstatte ich nicht, ich betrachte die Sache so, dass ich einem menschlichen Wesen in Not mit hundertzwanzig Forint ausgeholfen habe. Im Namen Christi oder des Antichrists.“ Und ein halbes Jahr später: „Schade, dass du meinen jetzigen Kurzroman nicht gelesen hast, der diesen Monat in der Ausgabe der Zeitschrift Csillag erschienen ist. Einerseits tut es mir leid, weil es eine gelungene kleine Arbeit ist, andererseits, weil Erzsébet Lakatos-Lőwy darin zur Heldin erhoben ist.“

Wirklich eine gelungene kleine Arbeit. So klar und einfach (einfach umrissen) das Erlebnis als Ausgangspunkt ist, alltäglich und banal, so… So…, ja wie ist dieses Buch eigentlich?

Nun, überraschend ist bereits, dass er dem Leben – scheinbar – Einlass in seine Arbeit gewährt. Er, der gerne betonte, keinen Lebenslauf, nur einen Arbeitslauf zu haben. Auch aus diesem Grund begann ich, in den Gesammelten Briefen zu blättern, um nachzusehen, ob es auch hier so ist, wie im Fall des Romans Die Geschichte meiner Frau, dass er jene Welt dem Werk fernhält, die sich gerade auf die dramatischste Weise in sein Leben einmischt.

Er hält die Welt fern und auch wieder nicht; ich würde eher sagen, er erfindet das, was ist – somit ist die erwähnte Distanz hiernach nicht zu deuten. Auch hier geschieht, was er in einem Selbstbekenntnis beschreibt: „Ich schrieb, wenn mich das Glück erfüllte, wenn sich ein Ton oder Wort ergab, bei dem ich sagen konnte: – Das schreibe ich jetzt nieder, den Rest werden wir sehen.“

Den Rest werden wir sehen: Diese schöne und zwangsläufige (!) Unsicherheit sehen wir in jedem Werk Füsts, so auch hier. Cherchez la femme? Nicht ganz. Der geheimnisvolle Gegenstand der Sehnsucht ist tatsächlich geheimnisvoll. Doch gibt es auch ein „Cherchez“, und auch irgendeine „femme“. Das Geheimnisvolle liegt darin, wie wir den Gegenstand betrachten. Und um weiter auf französischen Zitaten herumzureiten: György Somlyó macht darauf aufmerksam, dass das Grunderlebnis Füsts dasselbe wie jenes Rimbauds sei: „La vrai vie est ailleurs.“

Doch ist nicht nur das Leben rätselhaft und schwer durchschaubar, nicht nur diese Frau und nicht nur dieses Gefühl des Fehlens in Frauengestalt, sondern auch die Sprache von Milán Füst. Aus der Ferne ist noch das zweisprachige (ungarisch-deutsche) Gemurmel im Pest des 19. Jahrhunderts zu hören, aus dem Füst seinen eigenen natürlichen und auffallend konstruierten, künstlichen individuellen Klang anrührt, eine ständige Gehobenheit und Erregtheit, die meist danach strebt, die kleinliche Alltäglichkeit und die ständig aufkommende Langeweile zu fassen. Es ist ein singender Ton, in der Art einer Sprechoper, ein ständiges Rezitativ, eine melodiöse Deklamation.

Zuweilen ist es, als würde man unter den Tausenden von Ausrufungszeichen und Gedankenstrichen des Textes das Schnaufen und Keuchen von Gombrowicz-Texten hören, und als würde auch die bis zur Manieriertheit individuelle Orthografie Füsts genau das gleiche verstärken. Über die Probleme und Möglichkeiten der modernen Prosa ist Füst sich selbstverständlich im Klaren, man könnte sagen instinktiv, sein Körper ist sich darüber im Klaren, sein Magen. Er weiß, dass sich auch die Prosa an der Grenze zum Verschweigen befindet, im Meer der Stummheit. Nicht zufällig schreibt er an einer Stelle: „Ich wollte mir die große Stille Tolstois um jeden Preis zu Eigen machen und studierte ganze zwanzig Jahre diese Stille.“ Im Übrigen sticht aus beinahe jeder Äußerung Füsts seine Monstrosität hervor. Große Lichter, große Schatten. Den berühmten Anfangszeilen in Gombrowicz’ Tagebuch (Montag Ich, Dienstag Ich, Mittwoch Ich, Donnerstag Ich) gleichen seine Worte: „Wann vergisst man endlich diese öde und verfluchte, diese ewig gleiche Melodie, ich, ich und wieder ich? Nicht einmal die Erinnerung an uns selbst ist gut. Sprechen wir also über etwas anderes.“

Aber ist dieses „andere“ denn nicht der Ehrgeiz eines jeden Schriftstellers des 20. Jahrhunderts: Beißt sich nicht gerade daran jeder mit triumphierender Niederlage die Zähne aus?

Im großen (und ewigen!) Schatten einer erhabenen Mutter beginnt die Geschichte, und sofort weiß man, es ist wahr, was der Titel verspricht, dies ist die Geschichte einer Einsamkeit. Füst steht schamlos dazu, das beinahe einzige Thema des modernen Menschen, die Einsamkeit, unmittelbar zum Thema zu machen. Der Protagonist sagt an einer Stelle ((pro domo: S. 279)): „Was war mein Leben bislang? Nur Einsamkeit. (…) An wen hätte ich denken sollen? An meine Mutter, ihren Ehemann oder Caravaggio?“ Seien wir einmal ehrlich, wer hat diese Gedanken noch nicht gehabt, Wort für Wort?

Einsamkeit und Vision. Wer ist also diese Frau? Wessen Objekt und Subjekt? Woher die sie umgebende oder sich in ihr bergende unerwartete Kraft? Sie ist wie das Meer, erfahren wir. Na, ich weiß nicht… Über das Meer hat der französische Leser natürlich mehr und zauberhaftere Kenntnisse als ein ungarischer Vorwortschreiber. Das Buch behauptet, am Meer lerne der Mensch zu lachen. Jedenfalls spricht unsere Furcht erregende Mutter über das Verhältnis von Frau und Wasser in einem anderen Ton: ((305)) „In einem Sumpf kann man ebenso ertrinken wie im Niagara.“

Milán Füst war schon mit zwanzig Jahren ein alter Mann, das Alter war seine Zeit, ein alter Mann lacht hier über sich selbst und die Welt. Und dabei weint er. Wir aber können nicht zwischen Tränen und künstlichen Tränen unterscheiden: vielleicht verdient es diese Unmöglichkeit, als Kunst bezeichnet zu werden.

Und das brauche ich vielleicht gar nicht mehr zu erwähnen, dass die Frau – auf geheimnisvolle Weise! – Französisch konnte.

Péter Esterházy (der stolz in seinen Lebenslauf zu schreiben pflegt, 1983 – gemeinsam mit Imre Kertész – den Milán-Füst-Preis erhalten zu haben)