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PFLEGE DES SCHRIFTSTELLERISCHEN LEBENSWERKES VON MILÁN FÜST
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Problematische Werte

Gergely Angyalosi

„Problematische Werte“

Milán Füst: Der Abgrund

Jean-Paul Sartre: Der Ekel

 

Der Abgrund von Milán Füst – meine Absicht war es, etwas über diesen Kurzroman zu schreiben; ich wollte diese merkwürdige Mischung aus schillernd schönen Sätzen und unbeholfenen, umständlichen Phrasen verstehen, die sich miteinander vermischende Akustik des ruhigen, tiefen Atems der Größe und des keuchenden Dilettantismus. Bei der Arbeit kam mir jedoch der Zweifel, dass die „enge Lesart“ dieses 1928 entstandenen Werkes an sich vielleicht nicht ausreichend aufschlussreich sein könnte. In Der Abgrund  behält nämlich nicht die Größe, sondern (wie in nahezu in jedem Prosawerk Milán Füsts mit Ausnahme von Die Geschichte meiner Frau) der Dilettantismus die Oberhand. Es handelt sich um eine unverbesserlich, unrettbar verdorbene Arbeit, und dies erkannten bereits seine Zeitgenossen genau. Die Fehler und gelungenen Abschnitte werden uns gleichermaßen deutlicher, wenn wir den Roman mit einem Werk vergleichen, das in der westlichen Hälfte Europas etwa zur gleichen Zeit entstanden ist, und doch so viele ähnliche Züge aufweist, dass es sich lohnt, diese Untersuchung durchzuführen. Zu diesem Zweck habe ich den Roman Der Ekel  von Sartre ausgewählt. Er entstand zwar beinahe zehn Jahre später als der Kurzroman Füsts, doch weisen die initiierende Lebenssituation des Romans, das Eindringen des Philosophischen (ja, des Ideologischen) in das Prosagewebe, wenn auch nicht allzu viele Analogien, so doch (was vielleicht sogar wichtiger scheint) eine gewisse Homologie auf. Und wer kann schon behaupten, dass bei einem Vergleich immer die Analogien als Sieger hervorgehen müssen?

Anzumerken sei noch, dass meine Wahl auch durch jenen Aspekt beeinflusst war, dass wir in der Prosa Sartres ebenfalls dem Problem des Dilettantismus begegnen. Gewöhnlich beruft man sich außer auf einige seiner Novellen auf zwei Werke, die die Didaxe und die übertriebene Bewusstheit nicht zerstört haben: auf Der Ekel und auf Die Wörter. Bei beiden Werken kann der künstlerische Erfolg, das heißt, warum das Epische das sich fast unmittelbar äußernde Theoretisieren erträgt, mit jeweils anderen prosapoetischen Gründen erklärt werden. Wir können uns von diesem Vergleich also auch erhoffen, dass das Werk Füsts ein Licht auf Sartres Romanwelt wirft.

Was wir über die Homologie der initiierenden Lebenssituation gesagt haben, bezieht sich in erster Linie darauf, dass die Protagonisten von Der Abgrund und Der Ekel gleichermaßen eine entscheidende Veränderung durchleben. Diese Veränderung ist bei beiden eine innere, kausal nicht zu erklären und derart rätselhaft, dass man schon beinahe an ihrem gesunden Verstand zweifeln muss. Dieses Rätsel der Veränderung entfalten die beiden Werke; das Geheimnis verleiht ihnen die Spannung, aus der sich die Romane bis zum Schluss nähren. Das Ende kann dementsprechend kein anderes sein, als eine gewisse (Auf)Lösung des Rätsels. Der erste Absatz von Der Abgrund  lautet: „Wenn ich heute zurückdenke, habe ich das Gefühl, dass ich in jener Nacht im Traum verrückt geworden bin. Zwar bin ich seitdem wieder ein ordentlicher Mensch geworden – ziemlich ordentlich –, wenn auch nicht ganz der, der ich zuvor war. Aber beginnen wir mit dem Anfang.“ Diese Eröffnung wirft schon an sich Dutzende von Problemen auf, projiziert gleichsam einen Teil der ästhetischen Unsicherheiten des Werkes. Nach den Tagebüchern Füsts bewertete Osvát den Roman Der Abgrund als „eine Geschichte, die es nicht lohnt zu erzählen“: „Der einstige Versuch eines sich zu befreien unfähigen Menschen aufzubegehren, der heute – wenn er daran zurückdenkt – bereits zum Abenteuer degradieren muss –, damit er darüber lächeln kann. Und er tut es. Er betrachtet mit kultiviertem Zynismus, was mit ihm geschehen ist. Und doch erzählt er es mit jener Lebendigkeit, als würde es heute mit ihm geschehen, das, was in solch verblüffender Stärke nicht mehr in ihm lebendig sein kann – das heißt: der Erzähler verfälscht, retuschiert… und diese Zwiespältigkeit birgt das, dessen Lösung ein psychologischer Nonsens ist.“ Füst fragt daraufhin, ob dieser Einwand und das Urteil Osváts hinsichtlich der stockenden inneren Dynamik des Werkes wohl wegfielen, wenn er das Ganze in eine Erzählung der dritten Person umarbeiten würde. Die Antwort lautet eindeutig: ja, doch der bewunderte und gefürchtete Meister ermuntert ihn doch nicht dazu, diese Arbeit vorzunehmen, denn er hält das Ergebnis für zweifelhaft. Der Schriftsteller fügt einen verbitterten Kommentar hinzu: „Ich habe bemerkt, dass ich in der ersten Person lieber sage, was ich sage – so habe ich es gelassen, soll ich doch sprechen! Das ist der Fluch der zum Indirekten Verbannten.“ Auf die überraschende Arglosigkeit im Zusammenhang mit der Sprache verweist auch die folgende Bemerkung: „Ich hatte mir im Übrigen gar nicht vorgestellt, dass es von entscheidender Bedeutung sein könnte, ob ich etwas in der ersten Person oder in der dritten Person erzähle; und obwohl ich solcherlei schon gespürt habe, glaubte ich es mir nie.“ Aufgrund des Fiaskos – Kassák, Déry, Doktor Hollós, Illyés äußern sich ähnlich über diese „verfluchte Arbeit“ – überlegt er wieder, wie bereits oft zuvor, mit dem Schreiben aufzuhören. „In den vergangenen fünf Jahren habe ich fürchterliche Kraftanstrengungen unternommen – und das Ergebnis? – Problematische Werte.“

Der Ekel löst die Schwierigkeiten hinsichtlich der Erzählsituation mit einem einfachen und auf eine Vergangenheit von gut zwei Jahrhunderten zurückblickenden Mittel: mit der Form des Tagebuchs. Am Anfang des Romans imitiert er die Tagebuchartigkeit noch so stark, dass er Auslassungen, „verwischte Kleinigkeiten“ in den Text einfügt. (Im späteren Verlauf gerät dies dann in Vergessenheit.) Diese Technik ist trotz ihrer Einfachheit zur Veranschaulichung der inneren Ereignishaftigkeit geeignet, zur Verschmelzung von Gegenwart und Vergangenheit, auch dann, wenn die Form des Tagebuchs sich im Verlauf des Romans auf immer spärlichere äußere Merkmale beschränkt. Und während die Freunde Milán Füsts ihm die „gewollt künstlerische“ Manieriertheit seines Romans vorwarfen, ist bei Sartre – wohl kaum zufällig – zu lesen: „Vor Literatur wird gewarnt. Man muss so schreiben, wie es aus der Feder fließt, ohne nach Wörtern zu suchen.“ Diese selbstreflexive Bemerkung (denn dies sagt Roquentin beim Lesen seiner Aufzeichnungen vom Vortag) macht auf den gemeinsamen, großen Gegner des ungarischen und des französischen Schriftstellers aufmerksam, auf die Erhabenheit und die Geschwollenheit. Beide versuchten, sich auf ihre Art von diesem Schreckgespenst zu befreien, dass die „zum Indirekten Verbannten“ derart bedroht. Sartre wird mit der Nachahmung einer Art von gesprochener Sprache (wie Roland Barthes in Am Nullgrad der Literatur dazu sagte) zur „realistischen Illusion“ zurückgeführt. Füst tat dies hingegen mit der Ausarbeitung einer speziellen Diktion, die seine Sätze zugleich in künstlerische Höhen zu erheben und mit dem Zauber der Natürlichkeit zu versehen beabsichtigte. Das Ergebnis ist gelinde gesagt zweifelhaft. Sei es der den Figuren in den Mund gelegte Text, sei es die Reproduktion der inneren Rede des Protagonisten, der Leser ist auf Schritt und Tritt gezwungen zu spüren, dass die Sätze durch diese innere Spannung fast gesprengt werden. Der Autor sehnt sich derart nach Natürlichkeit und Unmittelbarkeit, dass ihn gerade diese Bestrebung von der Realität entfernt. Niemals sagt jemand solche Sätze – dies durchlebt der Rezipient und schon lenkt ihn das von der Kontinuität der Fiktion ab. Manches Mal ist diese Ablenkung aber auch eine Freude. Der eine oder andere Satz Füsts ist so komprimiert und von solch gedrängtem Rhythmus, dass er einem Gedicht entstammen könnte. Doch könnten wir nur allzu häufig den selbstkritischen Tagebucheintrag des Schriftstellers aus dem Jahr 1931 zitieren: „Na, da bin ich übel aufgelaufen! Schlimm bin ich gescheitert. Ich habe diese Arbeit ziseliert, verziert… und wirklich verkraftlost. In skandierendem Ton habe ich sie geschrieben… Ich hütete mich davor, dass ein Wort zweimal vorkommt – und habe die Frische erdrückt – Für Feinheiten des Ausdrucks! – Ein ausgearbeitetes, totgearbeitetes apollinisches Werk ist es geworden…“ Mit einem Wort: Einer der Hauptgründe für das Scheitern des Kurzromans Der Abgrund ist die Unfähigkeit eines grundlegend lyrischen Sprachtalents, eine autonome prosaische Sprache zu gestalten.

Sartres Sprache kann nicht als überaus originell bezeichnet werden; außer durch die großen französischen Erörterer war er vermutlich am ehesten durch Céline und Gide beeinflusst. Doch gerade diese Rohheit – im Vergleich zur zeitgenössischen französischen Prosa –, das Streben nach Schlichtheit rettet ihn an jenen Punkten, an denen der Roman in ausgesprochen emotionale, pathetische Register hinüberwechselt. Der innere Rhythmus der Komposition und der Struktur des Werkes verfolgt eine klare und eindeutige Linie. Von der ersten Begegnung mit dem Geheimnis (das heißt von dem Augenblick an, in dem er beim Hochheben des Kiesels die Eventualität und Absurdität des Daseins, also den Ekel verspürt) stürzt Roquentin in das Erlebnis hinab, wie ein Stein, den man in den Brunnen fallen lässt. Ab der ersten Äußerung des Unwohlseins weiß er, dass nur vorübergehende Abschnitte der Ruhe eintreten werden, er dem immer intensiveren Erleben der Kontingenz nicht ausweichen kann. Die innere Rhythmik von Der Ekel ist durch die Äußerung dieser Anfälle, die Augenblicke der Krämpfe und die vorübergehende Linderung bestimmt. Jede Kraftanstrengung und Energie des Tagebuchschreibers richtet sich darauf, die Ausmaße und den Charakter der in ihm stattfindenden Veränderung zu fassen. Vor dem Verdacht der Geistesverwirrung kann er sich schützen, indem er versucht, sein Ich von diesen Veränderungen zu trennen, denn, wie er sagt, „alle diese Veränderungen betreffen die Gegenstände“. Erst am Ende des Romans gelangt er zu der Erkenntnis, dass die Unmöglichkeit des Seins gerade in diesem Sich-auf-alles-ausbreiten besteht, dass der Gesichtspunkt des Subjekts (den er dann in Das Sein und das Nichts mit Hilfe der Begriffe des Für-sich beziehungsweise der menschlichen Realität auslöschend bewahren will) zur Welt der Erklärungen und der Ursachen gehört, die „nicht mit der Welt der Existenz identisch ist“.  Das Wesentliche ist also die Eventualität an sich, die für das menschliche Bewusstsein rasend machende Übersättigung der Existenz. Darauf bezieht sich der berühmte Satz: „Alles Existierende wird ohne Grund geboren, lebt aus Schwäche weiter und stirbt durch Zufall.“

Es ist vielleicht nicht notwendig, mit Beispielen zu untermauern, dass das in den Werken Milán Füsts immer wiederkehrende Daseinserlebnis in vielerlei Hinsicht Verwandtschaft zu diesem frühen Stadium des Sartreschen Existenzialismus aufweist. Die verfehlte Schöpfung misst der ungarische Autor an der Fremdheit der Seele und der Existenz. Der Abgrund legt die Formulierung dessen auf charakteristische Weise einer Nebenfigur in den Mund. (Dieser Abschnitt sollte auch deswegen zitiert werden, da er ein gutes Beispiel für den zum Zweck der Spontaneität umständlichen Füstschen Satz darstellt.) „Der Zustand des Menschen ist genau so, als würdest du jenes Ferkel in die Hand nehmen. Es fühlt sich nicht wohl, kreischt, denn es befindet sich in fremden Händen. – Nun, ich fühle dies, seit ich lebe, meine Lieben.“ Die plötzliche Rebellion der Außenwelt, der Gegenstände ist auch der Welt von Der Abgrund nicht fremd. Den Protagonisten trennt nach eigenen Worten nur eine dünne Haut vom Chaos, und wenn sich dieses Chaos (das bei ihm eine ähnliche Funktion erfüllt wie bei Sartre) der Seele aufdrängt – und in diesem Text geschieht genau das –, dann gibt es dafür die „gegenständlichen Entsprechungen“. Eine solche ist der Nebel, der den ganzen Kurzroman durchzieht, der mit der Steigerung der inneren Ratlosigkeit und Anspannung des Protagonisten von Grau in Gelb übergeht; eine solche ist die Unwirklichkeit der Einrichtung zum Schnapsausschank, die gerade Konsequenz der unglaublich scharfen Konturen, der feindlichen Evidenz der gegenständlichen Welt ist, und es könnten noch einige weitere Beispiele angeführt werden.

Das innere Geschehen im Fall des Rechtsprofessors bei Füst verfolgt allerdings bei Weitem keine derart eindeutige Richtung wie das Roquentins. (Ganz zu schweigen davon, dass der bereits zitierte erste Satz, der den Ausgang der Geschichte vorausschickt, also, dass der Protagonist nach seinem Ausbruchsversuch, der auf die Krise folgt, in die Wärme des ordentlichen bürgerlichen Lebens zurückkehren wird, die Spannung bedeutend senkt.) Diese Figur ist nicht einfach inkonsequent (was noch ein sehr konsequent dargestellter Charakterzug sein könnte), sondern zerfällt in mehrere, voneinander recht unterschiedliche Gestalten. Mal handelt es sich um eine überaus männliche, robuste Persönlichkeit, mal um einen schwachen Weichling, mal ist die Figur allwissend zynisch, mal auf kindliche Weise naiv und sentimental. Doch diese Probleme bei der Charakterdarstellung sind im Grunde genommen, auch wenn sie nicht als schriftstellerisches Verdienst zu bezeichnen sind, Teil des Füstschen Topos vom inneren Chaos des menschlichen Wesens. Die größte Schwierigkeit verursacht die Frage, ob die Krise seines Protagonisten Quelle eines Glücksgefühls ist (des Glücks der plötzlich erahnten Freiheit), das nur durch die Gewissensbisse, die mit dem Pflichtbewusstsein einhergehen, ausgeglichen wird, oder etwa das bedrückend schmierige, amorphe, mit einem Wort Sartres viskose Erlebnis der Sumpfartigkeit des Existierenden. Unter diesem Gesichtspunkt unterscheidet sich der denkwürdige Tag von den anderen darin, dass der Jurist „nicht in der Lage ist, den Sumpf in sich nicht zu ertragen“, sondern ihn, gewollt oder ungewollt, aufwühlt. Daher erscheint dann auch die gegenständliche Welt in widersprüchlicher Weise: Mal wird der leichte Rausch der wiedererlangten Freiheit suggeriert, mal die öde Hoffnungslosigkeit. Wir erinnern uns: Die in Der Ekel aufscheinende „kalte Sonne“ ruft in dem Protagonisten kaum zu ertragende physische Qualen hervor; bei Füst hingegen überströmt das Licht, das am sich zuspitzenden Punkt der Krise angeschaltet wird, die „schwarze Sonne“, die Gegenstände „über und über mit Musik“: ich bin glücklich, sagt der Professor immer wieder.

Das Verhältnis der beiden Figuren zur bürgerlichen Welt weist ebenfalls wichtige Berührungspunkte auf, ohne einander in übertriebener Weise zu ähneln. Auch unter diesem Aspekt handelt es sich eher um eine Metonymie. Wir wissen, dass bei Sartre der gewissenhafte Bürger nichts anderes als ein „Schwein“ ist, nicht so sehr aus gesellschaftlichen Gründen (also weil er das Elend anderer für ebenso natürlich hält wie seinen eigenen Wohlstand), sondern eher auf metaphysischer Ebene – da er nicht bereit ist, von dem gemeinsamen Elend der Existenz Kenntnis zu nehmen. Das Bewusstsein der „Schweine“ ist das Bewusstsein des Eigentums, daher besitzen sie auch eine Vergangenheit – die Vergangenheit ist nämlich „ein Luxus für Besitzende“. Sie sind die führenden Persönlichkeiten, die niemals eine Selbstreflexion durchführen, die sich ständig selbst belügen, um die Ungerechtfertigtkeit ihrer Existenz nicht sehen zu müssen. Nun, der Protagonist Milán Füsts beginnt seinen Weg von dieser Schicht des „Schweins“, oder genauer gesagt, von der Ebene des Bürgers, der die gesellschaftlichen Missstände trübselig zur Kenntnis nimmt; der weiß, dass die anderen, die zu seiner Kaste gehören, ihr Geld ähnlich wie er wert sind, na und, dass denjenigen, die in der Gesellschaft niedriger stehen, ohnehin nicht zu helfen ist. Der Professor hat sich sein ganzes früheres Leben damit abgefunden, dass das menschliche Dasein bedeutet, den in uns stinkenden Sumpf – in unserem eigenen richtig aufgefassten Interesse – zu ertragen. Dazu hat er seine Technik. Zum Beispiel bedenkt er morgens unter der Dusche die Welt mit allerlei Flüchen. „Dreckige Schurken! Niederträchtiges Volk! – brüllte ich in die Wände des Badezimmers…“ Er weiß, wann die „schändliche Glückseligkeit der Erwählten“ seiner Herr wird.

Für den Literatursoziologen würde es mit äußerst interessanten Informationen dienen, wie Sartre beziehungsweise Füst das Bürgertum darstellen. Bei beiden erscheint der Korso als der typische Nährboden für diese Sorte Mensch, bei Füst wird dieses Bild in jener Szene durch eine spezielle Nuance erweitert, als der Professor zwei seiner Studenten zum Mittagessen einlädt. Schon die Namen der Studenten sprechen für sich: Weiss und Mátéffy. Im Frankreich Sartres gibt es nur eine Art von Bürger, im Ungarn zwischen den beiden Weltkriegen zwei: den jüdischen und den gentroiden Typus. Beide verachten den jeweils anderen; der eine ist spöttisch und demütig, der andere überheblich und ungeschliffen. Eines ist ihnen gemein: der Konformismus, der Karrierismus und das Bewusstsein, im Leben auf der Seite der Gewinner stehen zu wollen. Nichts stünde ihnen ferner als die Erkenntnis Roquentins, nach der der Mensch immer verliert, und nur die Schweine glauben, sie hätten gewonnen. Der Professor schwebt gewissermaßen über ihnen, indem er sie gegeneinander ausspielt, ironische Bemerkungen macht; er gehört zu denjenigen, die scheinbar zwar gewonnen haben, in ihrem Innersten aber wissen, dass sie im Grunde genommen verloren haben und hinsichtlich der inneren Freiheit auf einer niedrigeren Ebene stehen als der Student, der auf die Karriere an der Universität verzichten konnte, um sich damit zu beschäftigen, was ihn wirklich interessiert.

Der Protagonist aus Sartres Roman legt zwischen zwei Sätzen einen immensen Weg zurück. Zu Beginn des Romans hat er durch den ihn überkommenden Ekel das Gefühl, nie wieder frei sein zu können. Dasselbe Erlebnis lässt ihn am Ende des Romans sagen (denn er hat es bereits verstanden, auf seine Weise aufgearbeitet): „Ich bin frei: ich habe keinen einzigen Grund mehr zu leben“. Der Ekel ist auch ein Roman der Freiheit, denn Roquentin und seine Geliebte Anny wollen sich gleichermaßen die Freiheit gegenüber der Kontingenz des Daseins erkämpfen – der eine in Form des Abenteuers, die andere in Form von perfekten Momenten. Unabhängig voneinander, doch gleichzeitig gelangen sie zu der Erkenntnis, dass es für denjenigen, der verstanden hat, was es bedeutet zu existieren, kein Abenteuer mehr gibt, weder eine privilegierte Situation noch einen perfekten Moment. Roquentin findet doch eine gewisse Möglichkeit, seine Existenz zu rechtfertigen: ästhetisch etwas hochtrabend könnten wir sagen, dass dazu das Kunstwerk die Möglichkeit bietet; das Kunstwerk kann, eine beliebig große zeitliche Distanz überbrückend, eine Beziehung zwischen zwei für sich Existierenden schaffen. Und das ist doch etwas: Wir haben zwar kein Recht auf die Existenz (die Frage nach der Berechtigung und dem Dasein kann nicht auf gleicher Ebene gestellt werden),  doch können wir nachträglich den Versuch unternehmen, unsere einstmalige Existenz zu berechtigen: mit irgendetwas, dem sich der Andere anschließen kann, was er zum Teil seiner eigenen „menschlichen Wirklichkeit“ machen kann. Daher ist es möglich, dass das Lied des amerikanischen jüdischen Komponisten zum Beispiel der Selbstlegitimation wird, das die Negerin viele Jahre davor singt, bevor Roquentin dieser abgenutzten Schallplatte in einem Café in der Provinz begegnet.

Es ist nicht uninteressant, dass auch bei Füst der Jazz eine Erwähnung findet, nur eben als die Äußerung der ziellosen, hemmungslosen Sinnlichkeit, bei der Vorbereitung der recht unbeholfenen Bordell-Szene. Bei ihm führt der Wunsch nach Freiheit unweigerlich zur Verantwortungslosigkeit und überflüssigen Zerstörung. Für das menschliche Wesen, dieses „verklärte Rindvieh“, ist, gerade weil es im Ursprung dem Universum fremd ist, sowohl die Dunkelheit der Aussichtslosigkeit als auch die schneidende Helligkeit nichts. „Die Tendenz zur Unabhängigkeit ist… über einen bestimmten Punkt hinaus schon Dummheit.“ Während Sartres Protagonist erkennt, dass er sich auf jeden Fall von seinen Mitmenschen trennen muss (vergebens sieht er, dass die Realität, ohne die es unmöglich ist zu leben, zusammen mit den anderen verschwindet), weiß der Professor Füsts trotz all seines Ringens, dass seine Rebellion nur eine Studienreise ins Nichts darstellt. Der Grund dafür ist nicht nur, dass der westeuropäische Bürger seine Entfremdung radikaler auf sich nehmen kann, dass das bürgerliche Bewusstsein das Geständnis der Entfremdung als Devianz schon lange verdaut und dem Künstler gestattet hat. Roquentin ist auf seine Art eine ebenso empfindsame Seele wie der Protagonist aus Der Abgrund. Für beide ist die Liebe ein Wert, der nicht zu hinterfragen ist, ja, beide sind sogar im literarischen Sinne des Wortes verliebt und stellen dieses Gefühl dem reinen Geschlechtsakt gegenüber. Bei Füst scheint zweifelsohne die Nostalgie auf, Christus zu folgen, ohne die Möglichkeit der Verwirklichung, doch als reine Idealität. Bei Sartre ist die Kirche nicht mehr als der Korso: die Bühne des menschlichen Lebens, der Versammlungsort der „Schweine“. Er würdigt die Religion nicht einmal jener sarkastischen Kritik, die sich, in der Gestalt des Autodidakten verkörpert, gegen die entleerte Religion des atheistischen Bürgertums, den Humanismus richtet. Dass der Professor Füsts in den Pferch der bürgerlichen Daseinsform zurückkehrt, hat auch prinzipielle Gründe. Er gelangt nicht von Freiheit zu Freiheit, sondern eher von der unredlich akzeptierten Beschränktheit zum Erlebnis des unüberbrückbaren Abgrunds – also ebenfalls zu einem Daseinserlebnis. „In uns ist ein Abgrund – sagte ich mir –, ja, ein Abgrund. Zwischen dem, was wir wirklich sind und was wir leben.“ Eine andere Kategorie Sartres bedienend, überwindet er die Böswilligkeit, um die von ihm aufgestellten Schranken freiwillig auf sich zu nehmen. Auch das Mitleid gebietet ihm Einhalt (Sartre bewahrt Roquentin einerseits vor dem Angriff des Mitleids, denn er befreit ihn so gut wie jeder gesellschaftlichen Beziehung und Abhängigkeit; jenes Mitgefühl, das er Anny und dem Autodidakten entgegenbringt, lässt ihn nur erkennen, wie unmöglich es ist, dem anderen zu helfen). Doch das Wichtigste formuliert der Protagonist Füsts für sich folgendermaßen: „es gibt sehr wohl Grenzgebiete, in die ich der menschlichen Seele auf ihrem zweifelhaften Wanderweg nicht folgen kann, doch auch nicht will“. Kann wohl verantwortlich behauptet werden, dass aus dieser existenziellen Entscheidung nur ein unglaubwürdiges Werk verfehlter Komposition entstehen kann? Wohl kaum. Es ist zwar wahrscheinlich, dass sich die auf ideologischer Ebene formulierte eigene Beschränkung auch auf die Ebene der Ästhetik auswirkt, zumindest in der Weise, dass sie der Freiheit zum Experiment Rahmen auferlegt. Das Problem besteht allerdings, jetzt tatsächlich auf ideologischer und nicht auf ästhetischer Ebene formuliert, darin, dass der Protagonist Füsts auf den Spuren der menschlichen Seele wandelt, den zweifelhaften Wanderwegen bis zu einem bestimmten Punkt folgt, dann aber – nicht aus den inneren Gesetzen der Figur, sondern aus der Einsicht des Autors heraus – innehält. Das Tragische dieses Innehaltens vermitteln die letzten Sätze, doch verwischen sie es auch sogleich. „Doch daran, was danach geschah, ist nichts Interessantes mehr. Und ich würde es schon allein deswegen nicht erzählen, weil es für mich beschämender als alles andere ist. Ich bin alt geworden.“

Dieses Tragikum hätte sich nur entgegen der zuvor erwähnten Einsicht – der berühmten Füstschen Weisheit – ästhetisch verwirklichen können. In dieser Weisheit ist es aber unmöglich, die Abweichungen in der Situation des westlichen und des mittelosteuropäischen Künstlers nicht zu spüren, den sehr viel engeren Spielraum, die unermesslich größere Ausgeliefertheit und – ob es gefällt oder auch nicht – den aus alldem resultierenden Konformismus. Dies bleibt auch dann ein Nachteil, wenn die westliche Entwicklung zwischenzeitlich den antikonformistischen Konformismus hervorgebracht hat, mit dem verglichen dieser hier gewisse Vorteile aufweist.

 

Aus dem Ungarischen von Eva Zador